Erwin

 Eine Heldengeschichte inspiriert von Rixdorfer Vierbeinern
in neun kurzen Kapiteln mit Vorrede und Epilog
Unkorrigierte Rohfassung (c) 2006 A.Dufft

Vorrede

Erwin sah böser aus, als er war und das lag an seinen Eckzähnen. Ganz besonders an den unteren. Die waren eindeutig zu groß gewachsen, aber da konnte man nun nichts mehr machen. Wenn einem Kind die Füße zu groß wachsen, schneidet man sie ja auch nicht einfach ab. Außer im Märchen. Und wenn einem Hund die Zähne zu groß wachsen, dann sieht er gefährlich aus.
Außerdem drückten die großen Zähne immer gegen seine Oberlippe und deshalb musste Erwin manchmal sabbern und dann sah er noch gefährlicher aus.

Erwin lebte alleine auf der Straße zwischen Autos und Rinnstein und manchmal im Park, denn keiner wollte ihn haben. Weil sich aber niemand erinnern konnte, dass er jemals jemanden gebissen hatte, ließen sie ihn in Ruhe.  Und ob nun gefährlich oder nicht, er durfte sich jeden Tag beim Metzger in der Kirschenallee eine Portion Wurstreste abholen, denn der Metzger hatte ein gutes Herz.


 Erstens

Fräulein Waltraud hatte gerade Äpfel gekauft, ging die Straße entlang und überlegte, was sie noch kaufen müsste, um einen schönen Apfelkuchen zu backen, als Erwin gerade um die Ecke kam. Da hat sie sich so sehr vor  Erwin erschrocken, dass sie hingefallen war.
Das hatte Erwin nicht gewollt, und wäre am liebsten, so wie die Äpfel über das Pflaster weit weg gerollt.
Aber Weglaufen wäre feige, deshalb blieb er da. Er wollte helfen. Erwin sah die Äpfel auf die Straße kullern und lief hinterher.
Die konnte er retten und wieder zurückholen, da war er sicher!
Er fing den ersten Apfel ein und trug ihn zwischen seinen langen Fangzähnen sicher zurück. Dann lief er los, um den zweiten zu holen.

Fräulein Waltraud schien das aber gar nicht zu gefallen. Sie saß immer noch auf dem Boden, schlug mit der leeren Tasche um sich, kreischte und zeterte. "Meine Äpfel, meine Äpfel! Jetzt sabbert dieser scheußliche Köter meine schönen Äpfel an!"
Erwin hörte nicht auf das Geschrei und holte die restlichen Äpfel auch noch herbei.
Da kam der Metzger aus seiner Metzgereitür, griff Fräulein Waltraud am Arm und zog sie hoch und immer höher, bis sie wieder auf ihren Beinen stand.
Erwin nutzte den Augenblick und warf geschickt alle fünf Äpfel in die Tasche zurück. Fräulein Waltraud riss die Tasche an sich und rannte davon so schnell sie konnte.

Der Metzger sah Erwin an und Erwin sah den Metzger an. Der Metzger zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht, was sie hat."
Erwin blinzelte mit den Augen, denn seine Schultern waren zu klein zum Zucken.




Zweitens

Erwin hatte einen Freund, der wohnte in einem hohen Haus am kleinen Park.  Es war aber kein Hund sondern ein kleiner Kater und der hieß Mirabell. Mirabell lief manchmal aus seiner Wohnung im obersten Stockwerk des hohen Hauses davon und die Treppen hinunter und hinaus aus dem Haus und hinüber über die Straße und hinein in den Park. Und dort trafen sie sich und erzählten sich Geschichten. Manchmal sangen sie auch gemeinsam ein Duett oder teilten sich die Wurstenden vom Metzger, aber meistens erzählten sie sich Geschichten.
Mirabell erzählte die Geschichten von seinem Balkon hoch oben, wo ihn die Vögel besuchten und die Schmetterlinge und Erwin erzählte Geschichten von ganz unten, von der Straße, dem Rinnstein und den Autos.

Diesmal erzählte Erwin von Fräulein Waltraud, den Äpfeln und dem Geschrei.
Mirabell zitterten Barthaare vor Aufregung.
"Das hast du aber gut gemacht", sagte er.
"Ja", erwiderte Erwin und lächelte, soweit es seine großen Zähne zuließen.
"Warum lächelst du?" fragte Mirabell, "das Geschrei von dieser Waltraud war doch sicher fürchterlich?"
"Oh doch, ja", sagte Erwin, "aber ich dachte, dass sie  bestimmt ganz nett sein kann, wenn sie gerade nicht schreit."
Mirabell lächelte nun auch.
"Ich muss jetzt wieder nach Hause."
Die Sonne ging unter und Mirabell wollte das Abendessen nicht verpassen.


Drittens

Erwin war auf dem Weg zum Metzger. Heute wollte er einmal einen anderen Weg nehmen. Er lief am Theater vorbei und schräg über den hinteren Parkplatz, dann weiter durch die Baustelle am Brunnenplatz und rein in die Mozartstraße.
Da sah er plötzlich, wie Fräulein Waltraud ein Haus betrat. Es war ein Frisörgeschäft. Erwin hielt vor dem Fenster an und spähte vorsichtig zwischen Haarspraydosen und Perückenköpfen hindurch. Da saß Fräulein Waltraud auf einem Stuhl, hatte den Kopf nach hinten gelegt und ließ sich die schönen blonden Haare von einem jungen Mann kämmen. Erwin lächelte wieder und dann knurrte sein Magen und er lief weiter zum Metzger, denn es war schon spät am Vormittag.

Die Sonne schien und der Metzger hatte schon auf Erwin gewartet. Er hatte ihm einen Napf mit frischem Wasser vor die Tür gestellt. Als Dank leckte ihm Erwin die Schuhe sauber und ließ sich bereitwillig die appetitlichen Wurstreste servieren. Dann legte sich Erwin am Rinnstein in die Mittagssonne und döste ein wenig.

Eine Stunde später wurde er von einem Duft wach, der weit entfernt von Wurst und fetten Rippchen war. Er öffnete vorsichtig ein Auge, dann schnupperte er rechts und schnupperte links und dann sah er Fräulein Waltraud, die mit einer frischen Dauerwelle und einem ganz besonderen Duft die Straße entlang kam. Erwin wollte sich heute sehr ruhig verhalten, so dass Fräulein Waltraud ganz bestimmt keinen Grund haben würde, sich vor ihm zu erschrecken.

Umso näher Fräulein Waltraud kam, umso stärker wurde der Duft und schließlich war sie so nah und der Geruch wurde so stark, dass er Erwin in die Nase biss und er es nicht mehr aushalten konnte. Er sprang auf und wollte weglaufen, doch seine Hinterbeine schliefen noch und so fiel er gleich wieder um. Das Fräulein Waltraud erschrak und schrie und riss die Arme hoch und schrie und flüchtete schnell die Metzgerei.
Von dem Geschrei waren Erwins Hinterbeine nun auch aufgewacht und er lief schnell davon und fand an der nächsten Ecke einen Pappkarton, in den er hineinsprang und sich ganz klein machte.

Drinnen in der Metzgerei stand ein völlig aufgelöstes Fräulein Waltraud vor einem ziemlich überraschten Metzger und hatte immer noch die Arme oben.
"Dieser Hund, dieser Hund, dieser schreckliche Hund! So geht das nicht weiter, jetzt reicht’s!"
"Sie meinen den netten Erwin? Der tut doch niemanden was."
"Ach ja?" erwiderte Fräulein Waltraud ganz außer Atem, "ach ja? Warum haben Sie das Schätzchen dann nicht schon längst mit nach Hause genommen, wenn er so nett ist!"
"Dann wäre er doch den ganzen Tag alleine zu Hause, denn ich bin den ganzen Tag hier und Hunde dürfen die Metzgerei nicht betreten, das wissen Sie doch."
Fräulein Waltraud schnaufte. Natürlich hatte der Metzger recht, aber sie hatte nun mal diese unerklärliche Angst vor dem kleinen Hund mit den großen Zähnen.
"Sie haben eine hübsche Frisur, Fräulein Waltraud. Kommen Sie, Sie dürfen von meiner frischen Leberwurst kosten."
Da lächelte Fräulein Waltraud und kostete die Leberwurst, die ihr der Metzger an einer langen Gabel reichte.


Viertens

Es war sehr warm, fast heiß und Erwin ging mit hängender Zunge die Mozartstraße hinunter zum Brunnenplatz.
Aber wegen der Baustelle war der Brunnen abgestellt und Erwin konnte kein erfrischendes Bad nehmen. Das war sehr schade und Erwin setzte sich auf die Bank zwischen den Sandhaufen und den Steinhaufen im Schatten eines kleinen Baumes und dachte nach.
Wenn er nur wüsste, wie er Fräulein Waltraud eine Freude machen könnte. 
Kaum hatte er das gedacht, kam das Fräulein Waltraud wie herbeigezaubert über den Platz gelaufen. Erwin versteckte sich schnell unter der Bank und als sie vorbei gelaufen war, ging er vorsichtig hinter ihr her. Wieder zurück durch die Mozartstraße und um die nächste Ecke und beim dritten Haus hielt Fräulein Waltraud an, holte den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und verschwand im Haus.

Hier wohnte sie also.
Jetzt hatte Erwin plötzlich eine Idee, wie er Fräulein Waltraud eine Freude machen könnte. Er wollte ihr ein Lied singen, ein besonders schönes Lied. Er schaute am Haus hinauf und da – er hatte Glück - da sah er, wie Fräulein Waltraud das Fenster im zweiten Stock öffnete, um frische Luft in ihr Zimmer zu lassen. Erwin warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und stimmte die höchsten glockenreinen Töne an, die er kannte. Er sang ein Lied von so großer Schönheit, wie er es selbst noch nicht gehört hatte, reihte ein Tremolo an das andere und im nächsten Moment hörte Erwin einen Schrei und dann war er plötzlich nass. Klatschnass, pitschnass, pudelnass, tropfnass, nass bis auf die Knochen!
Fräulein Waltraud hatte einen Eimer Wasser aus dem Fenster geschüttet und rief: "Verschwinde, du elender Köter, verschwinde mit deinem herzerbärmlichen fürchterlichen Gejaule!"

Erwin war enttäuscht aber ganz heimlich für sich dachte er, es ist zwar schade, dass ihr mein Gesang nicht gefällt, aber die nasse Erfrischung war ganz prima an diesem warmen Sommertag! Er schüttelte sich und lächelte.


Fünftens

Erwin hatte seinen vormittäglichen Rundgang erledigt. Er war am Haus seines  Freundes Mirabell vorbeigegangen und als er ihn auf dem Balkon sah, bellte er einen kurzen Morgengruß hinauf. Dann zog er weiter um die nächste Straßenecke.
Auch wenn er Fräulein Waltraud keine Freude mit seinem Gesang machen konnte,  - die Geschmäcker sind nun mal verschieden - dann wollte er wenigstens ein bisschen auf sie aufpassen. 
Also hatte er auch heute Morgen einen Blick auf das Haus von Fräulein Waltraud geworfen und nichts Verdächtiges entdeckt.

Dann war er über den Brunnenplatz gelaufen, um zu sehen, ob die Bauarbeiten erfolgreich vorankamen, denn er brauchte bald mal wieder ein ordentliches Bad.
Und nun  saß er beim Metzger neben der Eingangstür und kaute genüsslich auf einem leckeren Knochen herum.

Drei Häuser weiter war ein Blumenladen.
Erwin interessierte sich selbst nicht so besonders für Blumen, aber er wusste, dass eine Person wie Fräulein Waltraud das ganz anders sah. So kam ihm plötzlich der Gedanke, dass sich Fräulein Waltraud über einen schönen Blumenstrauß sehr freuen würde. Vielleicht, so dachte er, ist ein schöner Blumenstrauß eine angemessene Entschuldigung für seinen schlechten Gesang. Er ließ den Knochen Knochen sein und lief zum Blumenladen.

Vor dem Laden standen mehrere große Vasen mit frischen Sommerblumen. Erwin wusste, dass er wie so ziemlich alle Hunde farbenblind war. Also wollte er seine Wahl nach dem Duft treffen. Er schnupperte sich einmal quer durch alle Vasen. Da gab es Mohn und Kornblumen,  Pfingstrosen und Gartennelken, Margeriten, Levkojen und Ranunkeln. Manche dufteten wie feinstes Parfüm und andere rochen - um ehrlich zu sein  - eher unangenehm, und kamen deshalb gar nicht in Frage. Erwin entschied sich schließlich für Flieder. 
Er versteckte sich vorsichtig zwischen den Blumen und als Fräulein Waltraud die Straße entlang kam  schubste er die Vase mit dem Flieder um. Natürlich, wie sollte es anders sein, Fräulein Waltraut entdeckte den Erwin sofort, riss die Arme hoch und schrie.
Erwin versteckte sich schnell unter einem Auto.
Fräulein Waltraud schrie aber so laut, dass nicht nur die Blumenfrau aus der Ladentür stürzte, sondern auch der Metzger aus seiner Metzgereitür schaute und schnell zu Hilfe gelaufen kam.
Die Blumenfrau zeterte gleich los:
"Was soll ich denn jetzt mit den Blumen machen, die kauft doch keiner mehr, wenn sie erst einmal auf der Straße gelegen haben!"
"Na, dann sein sie mal froh, wenn ich Ihnen sogar noch den halben Preis bezahle!" brummte der der Metzger zurück.
"Aber...", die Blumenfrau schnappte nach Luft und den richtigen Worten, aber sie kam nicht dazu, denn schon holte der Metzger sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche.
"Ich nehme sie alle, wenn es sie beruhigt."
Erwin sah, wie der Metzger die von ihm eigens ausgewählten Blumen kaufte und sie dem Fräulein Waltraud überreichte.
Und er sah, wie sich Fräulein Waltraud freute "So schöne Blumen!" und glücklich lächelte. Und der Metzger war glücklich, weil Fräulein Waltraud glücklich war und Erwin war glücklich, weil er offensichtlich die richtige Wahl getroffen hatte.



Sechstens

Erwin saß am Rinnstein und lehnte sich an einen Laternenpfahl vor Fräulein Waltrauds Haus und passte auf.
Fräulein Waltraud war zwar gerade gar nicht zu Hause, aber das machte nichts, denn so konnte Erwin in Ruhe darüber nachdenken, wie er das mit dem Aufpassen eigentlich richtig machen wollte.
Vor lauter Nachdenken fing es ihn schließlich an zu jucken  und er kratzte sich am Ohr. Das machte ein Geräusch: flappflappflappflappflapp.
Dann kratzte er sich gleich auch noch am anderen Ohr: flappflappflappflappflapp. Und dann pinkelte er an einen Autoreifen.
"Altes Ferkel!" rief ein Mann der in diesem Moment ein Sofa aus dem Hauseingang schob.
'Ich bin kein Ferkel!' knurrte Erwin verärgert, 'pass auf, dass ich dir nicht gleich an dein Sofa pinkle!' Aber das tat Erwin natürlich nicht, dafür hatte er sich viel zu gut erzogen.  Der Mann hörte das Knurren und machte eine Bewegung mit dem Bein, dass man denken könnte, er wollte Erwin treten. Aber das sah bestimmt nur so aus und Erwin ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken.
Hier gab es heute offenbar nichts weiter zu bewachen und Erwin machte sich auf den alltäglichen Weg zum Metzger.

Erwin kaute gerade genüsslich auf einem Stück Schwarte herum, als Fräulein Waltraud schreiend die Straße hinaufgerannt kam. Erwin staunte. Wieso schrie Fräulein Waltraud schon bevor sie ihn gesehen hatte? Da musste etwas passiert sein. Er machte sich ganz klein und unsichtbar.
Fräulein Waltraud lief geradewegs in die Metzgerei hinein. "Mein Sofa! Mein Sofa! Mein Sofa ist verschwunden!"
Der Metzger holte schnell einen Hocker, damit sich Fräulein Waltraud setzen konnte. Dann holte er ein Glas Wasser und brachte es ihr. "Jetzt mal ganz langsam und eins nach dem anderen",  sagte er. Erwin schlich an die Tür, die einen kleinen Spalt breit offen geblieben war, gerade soviel, dass er alles gut hören und sogar ein bisschen sehen konnte. Fräulein Waltraud holte tief Luft, trank einen Schluck Wasser und erzählte.
"Gerade komme ich aus der Bücherei zurück, will mich auf mein Sofa setzen und lesen und dann ist da gar kein Sofa mehr!" Fräulein Waltraud schnappte nach Luft. "Mein Sofa! Einfach weg! Gestohlen! Geraubt und weggenommen!" Fräulein Waltraud fing an zu weinen. "Grüner Samt und geschnitzte Füße...", schluchzte sie. Der Metzger strich ihr vorsichtig über das schöne blonde Haar.
"Und die Polizei? Waren Sie schon bei der Polizei?" fragte er.
"Ach die Polizei – wegen einem alten Sofa schalten die doch nicht ihr Blaulicht an und fangen einen Dieb!"
Fräulein Waltraud war ganz durcheinander.


Siebentens

Erwin war auch ganz durcheinander. Grünes Sofa? Er hatte doch am Vormittag ein grünes Sofa gesehen. Ein Mann hatte es  aus dem Haus von Fräulein Waltraud getragen.
Erwin kriegte ganz große Augen.
Er hatte den Dieb gesehen!
Nun kriegte er ganz kleine Augen.
'Mist!' dachte er, 'ich habe nicht richtig aufgepasst!'
Jetzt musste er aber wirklich nachdenken und er merkte schnell, dass das zuviel war für seinen Kopf, das war eine Aufgabe für zwei. Er lief zum Park und wollte Mirabell treffen.
Mirabell schien schon ungeduldig auf Erwin zu warten.
"Ich muss dir was erzählen!"
"Ich auch!"
"Was ganz ungeheuerliches ist passiert!"
"Du zuerst!"
"Nein, du!"
So ging es noch eine Weile hin und her, bis sie sich geeinigt hatten, wer anfängt und dann sagte Erwin: "Fräulein Waltraud ist bestohlen worden. Am helllichten Tag!"
"Und jetzt ist ihr Fernseher weg", riet Mirabell.
"Nein", sagte Erwin.
"Ihre schöne Leselampe ist verschwunden."
"Nein."
"Ein Koffer."
"Nein."
"Das Fahrrad."
"Nein." brummte Erwin "es fehlt ihr ..."
"Ihre Kaffeemütze."
"Nein, was ist denn bitteschön eine Kaffeemütze und was ist das für ein blödes Ratespiel?"
"Das ist kein Ratespiel, das sind alles Sachen, die ein Mann bei mir im Haus in der letzten Woche in den Keller getragen hat."
Erwin spitzte seine ohnehin spitzen Ohren und wurde sehr neugierig. "War auch ein grünes Sofa dabei?"
"Ja, heute ganz frisch reingekommen. Ich habe es ganz genau vom Balkon aus gesehen."
"Wo ist der Keller?" japste Erwin ganz aufgeregt, "ich muss ihn sehen, sofort!"
Erwin war aufgesprungen und wollte schon loslaufen, aber Mirabell musste sich erst noch kurz strecken, doch dann ging es los.  Sie hatten es ja nicht weit: raus aus dem Park, rüber über die Straße und schon waren sie da. Die Haustür war nur angelehnt, dafür hatte Mirabell gesorgt. Sie flitzten durchs Treppenhaus zur Kellertür, die zum Glück nicht verschlossen war. Mirabell lief die Kellertreppe voraus und links einen finsteren Gang entlang. Vor einem Bretterverschlag blieb er stehen.
"Hier."
Erwin versuchte zwischen den Brettern hindurchzusehen. Das ging nur abwechselnd mit dem einen oder dem anderen Auge und zum Glück schimmerte etwas Tageslicht durch ein sehr schmutziges kleines Fenster.
Erwin hatte genug gesehen. Und gerochen. Hier roch es überall nach dem Mann, der 'altes Ferkel' zu ihm gesagt hatte. 'Selber Ferkel!' dachte er jetzt und er sagte: "Es ist das richtige Sofa, jetzt müssen wir den Dieb nur noch fangen".
"Wie soll das denn gehen?" fragte Mirabell etwas zweifelnd.
"Lass mich nur machen", erwiderte Erwin.


Achtens

Erwin lag auf der Lauer. Er hatte einen guten Platz zwischen zwei Autos am Straßenrand gefunden und beobachtete den Hauseingang. Es dauerte nicht lange, da kam ein Mann mit einem Tisch die Straße entlang. Als der Mann näher kam, erkannte Erwin ihn sofort und er dachte, ja, ein Tisch hat in dieser kleinen Kellerkammer gerade noch gefehlt! Wem wird er den wohl gestohlen haben?
Und gerade, als der Dieb die Haustür öffnen wollte, sprang Erwin auf und knurrte und zeigte seine großen Zähne. Der Dieb ließ den Tisch los und rannte was er konnte und Erwin hinterher.  So ging es in wilder Jagd um ein ganzes Straßenkarree und auf dem Weg kamen sie auch an der  Metzgerei vorbei. Der Metzger sah Erwin erstaunt hinterher und Fräulein Waltraud, die gerade ein Paar Wiener Würstchen für das Abendbrot kaufte war sehr froh, dass sie nicht die Gejagte war.
Als sie einmal rundherum waren, merkte der Dieb, dass er keine Zeit hatte, ins Haus zu gelangen, ohne von Erwin gebissen zu werden. Und so lief er weiter. Noch eine Runde. Und als sie wieder an der Metzgerei vorbeikamen, lief der Metzger auch hinter ihnen her, denn er wollte wissen, warum Erwin hinter dem Mann her lief.
An die zweite Runde schloss sich noch eine dritte Runde an und nun lief auch Fräulein Waltraud mit.
Als die dritte Runde herum war, verließen den Dieb die Kräfte. Erschöpft ließ er sich auf den Stufen an der Haustür nieder und Erwin sprang auf den Tisch und zeigte seine großen Zähne, damit der Dieb nicht versuchte, wieder wegzulaufen.
Dann kam der Metzger dazu und ein Weilchen später auch Fräulein Waltraud.
"Was ist denn los?" schnaufte der Metzger. Bevor irgendjemand antworten konnte, ging die Haustür auf, der Dieb sprang sofort hinein und wollte sich verstecken, doch alle stolperten hinterher und hinunter in den Keller.
Mirabell hatte die Tür mit einem Trick geöffnet, denn er hatte alles von seinem Balkon hoch oben beobachtet und war  schnell gekommen um zu helfen.
Und nun standen sie alle vor der Kellerkammer mit den gestohlenen Sachen. Fräulein Waltraud fiel vor Staunen fast um, als sie ihr schönes altes grünes Sofa mit den geschnitzten Füßen wiedererkannte und der Metzger erkannte sein Fahrrad wieder, das letzte Woche verschwunden war.
Es dauerte nicht lange, da kamen auch noch andere Leute, die den Tumult gesehen und gehört hatten in den Keller. Manche erkannten ihre vermissten Sachen und manche waren einfach nur neugierig und zum Schluss  kam auch ein Polizist, verhaftete den Dieb und brachte ihn zur Polizeiwache.


Neuntens

Alle trugen ihre Sachen auf die Straße, nur Fräulein Waltraud ließ sich helfen, denn das Sofa war zu schwer für sie alleine. Und dann war Fräulein Waltraud war plötzlich ganz nett zu Erwin, sie schrie nicht und sagte mit zuckersüßer Stimme "Danke" und dann fiel sie in Ohnmacht. Der Metzger fing Fräulein Waltraud gerade noch auf, bevor sie sich den Kopf am Straßenpflaster gestoßen hätte.
"Das war zuviel für die Gute", sagte er und legte sie vorsichtig auf das grüne Sofa.
Da machte sie ihre Augen wieder auf, lächelte den Metzger an und sagte schon wieder "Danke", und sie fügte hinzu "lieber Herr Metzger."
Da lächelte der Metzger und sagte "ich heiße Gisbert, - Gisbert Hildebrand, sagen Sie doch einfach Gisbert zu mir, Fräulein Waltraud."
Fräulein Waltraud kam langsam wieder zu sich, setzte sich auf und Gisbert setzte sich neben sie. Erwin saß vor ihnen auf der Straße.
Fräulein Waltraud sah ihn an. "Du scheußlicher kleine Kerl", sagte sie, aber es klang ganz anders als sonst. Sie schrie nicht, sie riss die Arme nicht hoch und sah ihn eigentlich sehr, sehr freundlich an und dann machte sie auch noch ihre Tasche auf und holte die Wiener Würstchen heraus und hielt sie Erwin hin.
Erwin lächelte und war glücklich und vor lauter Glück schloss er die Augen, legte den Kopf in den Nacken und fing an zu...
"Nicht singen! Bitte nicht singen." Erwin klappte die Augen wieder auf, bevor der erste Ton seine Kehle verlassen hatte.
"Bitte",  sagte Fräulein Waltraud noch einmal und sah ihn flehend an.
Schade, dachte Erwin, aber wenn ich ihr mit Nichtstun eine Freude machen kann, dann tue ich es gerne. Und außerdem waren da ja auch noch die Würstchen. Die schnappte er sich und lief mit Mirabell hinüber in den Park, wo sie sich die Belohnung brüderlich teilten.


Epilog

Erwin und Mirabell lagen unter einer Parkbank im Schatten und dösten.
"Warum hast du eigentlich so einen komischen Namen, Mirabell?" fragte Erwin.
"Oh", sagte Mirabell,  "nichts einfacher als das:  Mein Vater war Prinz Persipan  und meine Mutter Prinzessin Rosinella, meine Brüder heißen Aniso und Pampelmus und meine Schwester Mandarina. Wir stammen aus einem alten aber verarmten Adelsgeschlecht und herrschten einst über Wiesen und Wälder von denen dieser Park hier als letztes übrig geblieben ist. Die Menschen in der Stadt erkannten aber unsere edle Herkunft und schämten sich ein bisschen, dass sie uns unseres Königreichs beraubt hatten und quasi zum Ausgleich und als Entschuldigung für diese missliche Situation führen wir nun ein komfortables Leben und residieren in verschiedenen Wohnungen dieser Stadt. Wir bekommen unser Frühstück auf Silbertabletts serviert und ebenso unser Abendessen, man reinigt unsere Toiletten regelmäßig,  sorgt für bequeme Kissen und Decken, auf denen wir uns ausruhen können. – Doch wie ist es bei dir,  du hast doch jetzt auch eine schöne Wohnung und nette Menschen bei denen du wohnst?"
Erwin schloss die Augen und brummte kurz.
Ja, seit zwei Wochen nun schon bekam er sein Essen auf einem silbern schimmernden Teller und er hatte einen geräumigen Korb mit einer flauschigen Decke darin.  An jedem Sonntag durfte er auf dem grünen Sofa sitzen und manchmal sagte Fräulein Waltraud 'Mein kleiner Prinz' zu ihm.
Zweimal in der Woche ließ sie ihn alleine in den Park, damit er mit Mirabell Duette singen und die neuesten Geschichten austauschen konnte.
Metzger Gisbert war seit dieser Zeit täglich bei Fräulein Waltraud und nächste Woche wollten sie sich verloben und dann darf Gisbert sein Bett neben das von Fräulein Waltraud stellen.

Das Leben war schön.

Erwin lächelte.